Jungenarbeit ist mehr als ein pädagogisches Zusatzangebot. Sie ist eine wirksame Form der Prävention – gerade in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, globaler Krisen und öffentlicher Debatten, die auch Jungen vor besondere Herausforderungen stellen. Wer Jungenarbeit jetzt stärkt, handelt vorausschauend statt später mit Notfallprogrammen reagieren zu müssen.
Die MeToo-Bewegung hat deutlich gemacht, wie notwendig eine frühzeitige Auseinandersetzung mit Macht, Grenzen und Sexualität ist. Diese Debatte betrifft nicht nur Täter oder Betroffene, sondern auch Jungen und junge Männer, die unsicher sind, wie ein respektvoller Umgang aussehen kann. In unseren Flirt- und Rollenworkshops erleben wir immer wieder Jungen, die Angst haben, „etwas falsch zu machen“, und dringend Orientierung suchen. Jungenarbeit kann hier präventiv dazu beitragen, geschlechtliche Kommunikation, Konsens und Verantwortung früh zu thematisieren – bevor Unsicherheit in Rückzug, Übergriff oder toxisches Verhalten kippt.
Die Corona-Pandemie hat soziale Ungleichheiten verschärft und viele Jungen besonders isoliert. Gerade Jungen, die Nähe über körperliche Aktivität und Gruppendynamik erleben, haben unter den Kontaktbeschränkungen stark gelitten. Gleichzeitig wurde das männliche „Nicht-Reden“ in dieser Zeit zum Problem: Psychische Belastungen, Gewalt in der Familie oder Einsamkeit blieben oft verborgen. Als direkte Reaktion haben wir unser Streetworkprojekt in der Düsseldorfer Altstadt aufgebaut. Es ermöglicht niedrigschwellige Gespräche mit Jungen dort, wo sie sich aufhalten – über Belastung, Druck, Zugehörigkeit und Selbstwert. Viele dieser Gespräche waren der erste Schritt zu weiterführender Unterstützung.
Auch die gesundheitliche Situation und die schulische Entwicklung vieler Jungen zeigen, wie groß der Bedarf an begleitenden Angeboten ist. Im Rahmen unserer Streetwork-Einsätze sowie in der Arbeit an Schulen, Jugendzentren und Bildungseinrichtungen stellen wir immer wieder fest, dass Jungen nach wie vor deutlich seltener psychologische Hilfe in Anspruch nehmen – obwohl sie ebenso häufig von psychischen Belastungen betroffen sind. Viele zeigen Symptome, die auf depressive Episoden, Angststörungen oder psychosomatische Beschwerden hinweisen, etwa Schlafprobleme, Rückzug, Reizbarkeit oder Unruhe – meist jedoch unerkannt und unbehandelt. Sie brechen außerdem häufiger die Schule ab und erleben diese oft als Ort des Scheiterns. Rollenerwartungen, emotionale Unsicherheit und fehlende Bindungserfahrungen wirken sich direkt auf Verhalten, Konzentration und Motivation aus – nicht selten begleitet von Schulverweigerung, Überforderungsreaktionen oder sozial-emotionalen Entwicklungsverzögerungen. Jungenarbeit kann hier frühzeitig ansetzen: Sie schafft Zugänge, fördert Selbstwahrnehmung und Ausdruck, stabilisiert Selbstwert und Beziehungsfähigkeit. So lassen sich gesundheitliche Risiken abfedern, bevor sie chronisch oder akut werden – und schulische Entwicklungsverläufe positiv beeinflussen, noch bevor Rückzug, Leistungsabbruch oder Konflikteskalation eintreten.
Krieg, Flucht und gesellschaftliche Spannungen betreffen viele Jungen – sei es durch eigene Fluchterfahrungen oder durch die mediale Dauerpräsenz von Gewalt. Besonders Jungen mit Migrationsgeschichte stehen häufig unter einem doppelten Erwartungsdruck: zwischen Herkunft, Anpassung und widersprüchlichen Männlichkeitsnormen. In Workshops wie „Be Your Own Role Model“ und „Sei (k)ein Mann!“ bieten wir geschützte Räume, in denen Jungen ihre Erfahrungen reflektieren, sich ausdrücken und ihre eigene Position entwickeln können – ohne Vorgaben, aber mit Haltung.
Was wir bei kohl eG konkret tun
Wir begegnen Jungen dort, wo sie sind – auf der Straße, in Schulen, im Alltag. Unser Projekt Streetwork in der Düsseldorfer Altstadt ist für viele der erste Kontakt, aus dem pädagogische Prozesse entstehen. Aus diesen Begegnungen ist das sexualpädagogische Projekt „Check What You Expect“ entstanden – ein Workshop, in dem Jugendliche und junge Erwachsene über Flirten, Nähe, Konsens und Unsicherheit sprechen können.
Mit unseren Workshops wie „Be Your Own Role Model“ und „Sei (k)ein Mann!“ bieten wir Jungen die Möglichkeit, eigene Rollenbilder zu hinterfragen, Gruppendruck zu reflektieren, Gefühle zu äußern und neue Handlungsoptionen zu entwickeln. In unserem Workshop „Schlagkräftig“ geht es um Gewaltprävention, Selbststeuerung und klare Kommunikation.
Wir arbeiten vernetzt, gendersensibel und fachlich fundiert, bringen die Perspektiven der Jungen in Fachaustausch, Netzwerke und politische Gremien ein – und entwickeln unsere Angebote stetig weiter. Aktuell arbeiten wir daran, unsere Praxis methodisch und strukturell zu stärken, in dem wir unsere Mitarbeiter:innen im Bereich der Jungenarbeit gezielt weiterqualifizieren. Damit leisten wir einen Beitrag zur langfristigen Verankerung von Jungenarbeit in der Düsseldorfer Jugendhilfe.
Prävention, die wirkt – und entlastet
Zusammenfassend verstehen wir unsere Jungenarbeit als eine vorsorgende, wirksame Investition in gesellschaftliche Stabilität.
- Sie kann Gewalt vorbeugen, indem Jungen früh lernen, Konflikte anders zu lösen.
- Sie kann sexuelle Grenzverletzungen verhindern durch die Auseinandersetzung mit Einvernehmlichkeit, Körper und Macht.
- Sie kann psychische Krisen frühzeitig abfedern durch Räume für ehrliche Gespräche.
- Sie kann Radikalisierung und Rollenstarre entgegenwirken, indem sie alternative Männlichkeitsbilder sichtbar und lebbar macht.
- Sie kann schulische Entwicklung fördern durch den Aufbau von Selbstwert, Beziehungsfähigkeit und Orientierung.
- Sie kann gesundheitliche Folgekosten senken, weil sie psychische Stabilität und soziale Kompetenzen früh stärkt.
Langfristig entlastet Jungenarbeit nicht nur Schulen, Jugendhilfe und Hilfesysteme – sie stärkt auch Bildungswege und wirtschaftliche Teilhabe. Jungen, die sich selbst kennen, fühlen und ausdrücken können, haben bessere Chancen auf schulischen Erfolg, berufliche Orientierung und gesellschaftliche Mitgestaltung.
Kurz gesagt: Wer heute in Jungenarbeit investiert, spart morgen an Krisenintervention, Gewaltprävention, Psychiatrie, schulexternen Hilfen und Polizei.
Denn Jungenarbeit darf keine Feuerwehrmaßnahme sein. Sie ist eine tragende Säule für eine gerechtere, gewaltfreiere und gesündere Gesellschaft. Und wir bei kohl eG sorgen dafür, dass sie stattfindet – jeden Tag, mit Haltung, Fachlichkeit und aus Überzeugung.
07/2025, Tiemo